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Gedenkstätte
Gedenkstätte Hannover-Ahlem
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Gedenkstätte Hannover-Ahlem

Anschrift:
Heisterbergallee 8
30453 Hannover
Öffnungszeiten:
Dienstag bis Donnerstag von 10 bis 17 Uhr (in den Schulferien bis 15 Uhr); Freitag von 10 bis 17 Uhr; Sonntag von 11 bis 17 Uhr, offene Führungen jeden ersten und dritten Sonntag im Monat um 14 Uhr (ab fünf Personen)
E-Mail:
gedenkstaette@region-hannover.de
Telefon:
+4951161623745
Homepage:
Gedenkstätte Ahlem (zuletzt eingesehen am 31.08.2023)mehr erfahren

Kurzbeschreibung

Der Komplex der ehemaligen Israelitischen Erziehungsanstalt der Simon’schen Stiftung beherbergt heute die Gedenkstätte Ahlem. Die dortige Dauerausstellung ist zweigeteilt. Ein Teil fokussiert auf die Verfolgung und Ausgrenzung der deutschen Judenheit in der NS-Zeit; im zweiten Teil wird die Geschichte der Erziehungsanstalt, der 1893 gegründeten Gartenbauschule rekonstruiert.
Begegnungsangebot:

Seit 2015 veranstaltet die Gedenkstätte Ahlem eine musikalische Reihe mit dem Titel „Musik aus Israel“. Dabei spielen aufstrebende Künstler*innen aus Israel mit ihren Musikgruppen ein Konzert in Hannover. Der Auftritt wird in der Regel begleitet von einem Besuch der Band in einer Schule. Ziel ist, dass die jungen Menschen, abseits historischer oder aktueller politischer Themen miteinander ins Gespräch kommen, sich kennenlernen, austauschen und über die universale Sprache der Musik miteinander kommunizieren. Die Gedenkstätte Ahlem möchte damit Begegnungsräume schaffen, die den interreligiösen Austausch junger Menschen ermöglichen.

Zielgruppe

Schulen aller Schularten

Dauer

Die Dauer eines Besuchs in den Schulen ist flexibel gestaltbar.

Zeiten

Der Besuch in den Schulen ist im Umfeld eines Konzerttermins zeitlich flexibel gestaltbar. Eine Vorschau auf mögliche Konzerttermine erhalten interessierte Schulen auf Anfrage.

Kosten

Das Angebot ist für Schulen kostenlos.

Ansprechpartner*in

Shaun Hermel
E-Mail: gedenkstaette@region-hannover.de
Telefon: +4951161623745

Hinweise

Die Schüler*innen sollten sich in englischer Sprache verständigen können.


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Das Festjahr in Niedersachsen im Rückblick - Projekte:

Symposium „Judentum in Niedersachsen – lebendig, wertvoll und bereichernd“

Das Thema

Anlässlich des Festjahres „321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ fand auf Einladung des Niedersächsischen Landesbeauftragten gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens am 18. Oktober 2021 ab 14 Uhr in der Gedenkstätte Ahlem ein halbtägiges Symposium unter dem Titel „Judentum in Niedersachsen – lebendig, wertvoll und bereichernd“ statt.

Mit Blick auf die derzeitigen Diskussionen um neuere, auf Ab- und Ausgrenzung setzende Entwicklungen in unserer Gesellschaft und deren tiefsitzende Ursachen wurden hier nicht die standardisierten und ritualisierten, sondern neue Ansätze und verschiedene Perspektiven präsentiert und diskutiert. Neben der Vorstellung verschiedener Projekte in Niedersachsen wurde das von Liv Migdal an der Violine und Matan Goldstein an verschiedenen Perkussions-Instrumenten musikalisch umrahmte Symposium mit einem Hauptvortrag von Bestseller-Autor Peter Prange und mit einer lebendigen Podiumsdiskussion zwischen der Journalistin Mirna Funk, der Staatsministerin a.D. und Generalsekretärin des Vereins „321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, Sylvia Löhrmann, dem Autoren Peter Prange sowie dem Vorsitzenden der WerteInitiative e. V., Dr. Elio Adler, bereichert. Moderiert wurde die Veranstaltung in hochprofessioneller Weise von der NDR-Journalistin Christina von Saß.
Vonseiten des Niedersächsischen Landtags wurde das Symposium begleitet von den Abgeordneten Kerstin Liebelt (SPD) und Jörg Bode (FDP).

In chronologischer Reihenfolge befassten sich die weiteren Vorträge mit den folgenden Themenschwerpunkten:
• „Jüdisches Leben in Niedersachsen – eine Standortbestimmung“
Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbands der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen K. d. ö. R., und Katarina Seidler, Vorsitzende des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Niedersachsen K. d. ö. R.
• „Der Schutz jüdischen Lebens als Eckpfeiler niedersächsischer Landespolitik“,
Niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza
• „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ – Vorstellung ausgewählter niedersächsischer Projekte
Dr. Franz Rainer Enste, Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens
• Vorstellung besonderer Projekte des Landesdemokratiezentrums:
a) „Gewalt, Ausgrenzung und das Stereotyp ‚Jude‘ im Fußball“ Dr. Elke Gryglewski, Geschäftsführerin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten
b) „Dokumentation antisemitischer Vorfälle“ Katarzyna Miszkiel-Deppe (RIAS), Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Niedersachsen (RIAS)
c) „Empowerment und Dialogarbeit“ Dr. Rebecca Seidler, Leiterin des Projekts „Jüdisches Leben – Empowerment und Dialogarbeit“ beim Landesverband Israelitischer Kultusgemeinden Niedersachsen
d) „Was geht mich jüdisches Leben in Deutschland an? – Betrachtungen eines Nachgeborenen“ Peter Prange, Schriftsteller und Buchautor

Die anschließende Podiumsdiskussion stand unter dem Thema „Von Kitt und Rissen – was eine Gesellschaft zusammenhält und was sie spaltet“.

In der Gedenkstätte Ahlem, einer einstigen israelischen Gartenbauschule, später Sammelstelle für Deportationen und heute Erinnerungsort, wurde so mit der Vorstellung innovativer und bedeutender Projekte nicht nur die Arbeit im Kampf gegen Antisemitismus in unserem Bundesland einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, sondern es wurden auch neue Gesprächsebenen beschritten, um der Frage nachzugehen, welcher „Kitt“ unsere Gesellschaft zusammenhält und welche „Risse“ sie spaltet. Das Symposium wurde in voller Länge aufgezeichnet und live im Internet ausgestrahlt. Die Teilnahme an der Veranstaltung war kostenlos.

Das Symposium

Mit einem Shakespeare-Zitat aus dessen Roman „Der Kaufmann von Venedig“, aufgegriffen vom anwesenden Autor Peter Prange in seinem Roman „Winter der Hoffnung“ begrüßte der Landesbeauftragte Franz Rainer Enste mit einem besonderen gedanklichen Impuls die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums.
„If you prick us, don’t we bleed?
If you tickle us, don’t we laugh?
If you poison us, do we not die?“
Der Protagonist des oben bezeichneten Romans leite, so Enste, aus dieser Aussage her, dass Shakespeare hiermit eine ebenso einfache wie grundlegende Einsicht in das Wesen des Menschen in Worte gefasst habe, nämlich, dass jeder Mensch gleich sei. Hierbei spiele es keine Rolle, wo er oder sie herkomme, da alle Geschöpfe auf dieser Welt weinen wie lachen, leben wie sterben. Danach kamen zunächst die jüdischen Landesverbände in Niedersachsen zu Wort, um einen Eindruck des aktuellen jüdischen Lebens in unserem Bundesland zu vermitteln.

Für diese Standortbestimmung dankte Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbands der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen K. d. ö. R., zunächst dem Landesbeauftragten für sein besonderes Engagement und richtete dann seinen Blick zurück in die Vergangenheit. Er berichtete davon, dass die Geschichte der Jüd*innrn in Deutschland und in Niedersachsen mit Höhen und Tiefen verbunden sei und wie die Verfolgung der Jüd*innrn im Dritten Reich nicht erst mit 1933 begonnen habe. Dabei beschrieb er die Entwicklung am Beispiel der jüdischen Gemeinde in Hannover, die nach 1945 mit später dann insgesamt drei Gemeinden ein kleines und gemäßigtes Judentum wiederaufgebaut habe.

Fürst wörtlich: „Ein großer Umbruch stellte dann die Ankunft der Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre dar, die dazu führte, dass die Gemeinden einen erheblichen Zuwachs erlebten und sich wieder mehrere bis heute existierende Gemeinden in ganz Niedersachsen gründeten“. Leider musste Herr Fürst jedoch feststellen, dass auch nach so langer Zeit das jüdische Leben heute noch immer von Antisemitismus bedroht werde. Er halte es jedoch nicht für richtig, wenn sich jüdische Gemeinden als Hochsicherheitstrakte vor dem gesellschaftlichen Leben verschlössen. Die Sicherheit könne nur, so betont er eindringlich, durch die Mitmenschen gewährleistet werden, die in einem demokratischen und pluralistischen Deutschland leben wollten.

Katarina Seidler, die Vorsitzende des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Niedersachsen K. d. ö. R. richtete ihren Blick auf die Gegenwart, als sie über das aktuelle Leben der insgesamt sechs Liberalen Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen sprach. Sie stellte dabei fest, dass die Corona-Pandemie auf der einen Seite dazu geführt habe, dass die Gemeindemitglieder trotz des sozialen Abstands durch verschiedene Hilfsaktionen näher zusammengerückt seien, und auf der anderen Seite, dass die Pandemie-Leugner auf Demonstrationen mit antisemitisch konnotierten Parolen das Judentum auf eine neue, perfide Art und Weise ins Visier nähmen. Zu den meist rechts orientierten Demonstranten seien im Mai 2021 dann auch israelfeindliche Protestler gestoßen, die mit antisemitischen Aussagen und dem Verbrennen von Israel-Flaggen vor niedersächsischen Synagogen entsprechende Straftaten begangen hätten So beschrieb Frau Seidler in ihrer Standortbestimmung eine andere Perspektive auf das Thema der Sicherheit für jüdische Gemeinden und brachte ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass auch in Niedersachsen baldmöglichst entsprechende finanzielle Mittel zur Erhöhung der Sicherheitsstandards in den Gemeinden zur Verfügung stehen sollten. Weiter fügte sie hinzu, dass das Festjahr zu 1700 Jahren jüdischem Leben in Deutschland auch viele positive und wertvolle Akzente gesetzt habe und so das jüdische Leben facettenreich und lebendig in zahlreichen Veranstaltungen habe präsentiert werden können. Zum Schluss betonte sie hierbei die gute Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Justizministerium sowie insbesondere mit dem Landesbeauftragten gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens, aber auch mit anderen Kirchen oder den Dialog mit der Türkischen Gemeinde in Niedersachsen. Zudem weitete Frau Seidler den Blick auf ganz Deutschland und berichtete von der Einführung eines Militärrabbiners oder verschiedenen Entwicklungen in der Ausbildung und Forschung im Jahr 2021.

Danach gewährte die Niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza einen Einblick in die Maßnahmen und Aktivitäten ihres Hauses im Kampf gegen Antisemitismus. Neben der Einrichtung des Amtes des Landesbeauftragten erwähnte sie hierbei zahlreiche Projekte, die allesamt verdeutlichen sollten, wie insbesondere im Festjahr 2021 das jüdische Leben in unsere Gesellschaft verankert, vor Bedrohungen geschützt sowie als Bereicherung kultureller Vielfalt verstanden werden müsse. Ferner beleuchtete Frau Havliza das Phänomen des Antisemitismus aus juristischer Perspektive, als sie die im Zusammenhang mit dem wieder aufkeimenden Nah-Ost-Konflikt im Mai 2021 begangenen Straftaten in Osnabrück, Göttingen und Hannover beschrieb oder die Verschwörungsideologien sowie die antisemitischen Stereotype, welche gerade im digitalen Raum viel Auftrieb gewonnen haben, erwähnte. Antisemitische Taten, so betonte es die Ministerin, seien auf das Schärfste zu verurteilen und müssten mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpft werden. Hierzu bediene sich das Justizministerium der Prävention sowie der Repression. Havliza weiter: „Zu den präventiven Maßnahmen zählen unter anderem die vom Landes-Demokratiezentrum geförderten Projekte zum Empowerment jüdischer Gemeindemitglieder, zur Prävention von Antisemitismus im Breitensport Fußball, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Niedersachsen sowie eine Vielzahl an Beratungsangeboten für Opfer und Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Und auch auf die Prävention im Kinder- und Jugendalter geht das Land Niedersachsen mit dem über das Landesprogramm für Demokratie und Menschenrechte geförderten Projekt PARTS ein, welches Akzeptanz, Toleranz und soziale Kompetenz im Grundschulalter fördert.“ Im Bereich der Repression wies Frau Havliza insbesondere auf die im Jahr 2020 eingerichtete Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet Niedersachsen (ZHIN) hin, die als spezialisierte Einheit mit hoher Intensität die Straftaten der bedeutsamen Hasskriminalität bearbeite. Auch strebe die niedersächsische Justiz eine Null-Toleranz-Strategie bei der Strafverfolgung antisemitischer Delikte an, Einstellungen von Ermittlungsverfahren aus Opportunitätsgründen kämen dabei in der Regel nicht in Betracht. Die Ministerin ging weiter auf den in 2021 eingeführten Straftatbestand der verhetzenden Beleidigung sowie Fortbildungsangebote für angehende Jurist*innen zur Sensibilisierung für das Thema Antisemitismus ein.

Nach einem musikalischen Intermezzo stellte der Landesbeauftragte dann einige Leuchtturmprojekte vor, die in Niedersachsen im Rahmen des Festjahres 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland stattgefunden haben. Er erörterte viele Projekte, die er selbst besucht hatte, und wies auf die unzähligen weiteren Initiativen hin, die auch ohne finanzielle und ideelle Unterstützung umgesetzt worden waren. Wichtige Impulse wurden ebenfalls von den Vertreter*innen der innovativen Projekte gegeben, die sich im Anschluss vorstellten. Dazu zu zählen ist das Projekt „Wer gegen Wen? Gewalt, Ausgrenzung und das Stereotyp ‚Jude‘ im Fußball“, welches von der Geschäftsführerin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, Dr. Elke Gryglewski, dargestellt wurde. Hierbei gehe es darum, Handlungsempfehlungen zur Vorbeugungvon Antisemitismus im Fußball durch historisch-politische Bildungsarbeit zu entwickeln. Um bedarfsorientierte und zielgruppengerechte Bildungsangebote zu erarbeiten, seien Interviews mit Expert*innen auf verschiedenen Ebenen des organisierten Fußballs in Niedersachsen geführt worden. Aber auch Verbände, Profi-Vereine, Fanprojekte und Fan-Initiativen seien ebenso wie Amateurvereine oder die Fachwelt sowie die Zivilgesellschaft in der Untersuchung berücksichtigt worden. Gryglewski wörtlich: „In 2021 wurde das Projekt nun in die Praxis implementiert und hat eine besonders positive Resonanz erfahren. Elf gewonnene Praxispartner, darunter Amateurvereine wie auch professionelle Verbände, zeigen, dass die Notwendigkeit der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus erkannt wurde“. Zum Schluss brachte Frau Dr. Gryglewski ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass das Projekt auch in Zukunft finanziell gesichert und somit in der Stiftung Niedersächsischer Gedenkstätten institutionalisiert werden könne.

Danach stellte die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Niedersachsen (RIAS), Katarzyna Miszkiel-Deppe, die vier Säulen der wichtigen Arbeit der Dokumentationsstelle, die von der Amadeu-Antonio-Stiftung getragen wird, vor. Hierzu zähle das Erfassen und das Monitoring von antisemitischen Vorfällen im Land Niedersachsen, die Netzwerkbildung und Pflege von Kontakten, die Verweisberatung sowie die Präventions- und Bildungsarbeit über und gegen Antisemitismus. Strafrechtlich relevante und nicht relevante Vorfälle würden hierbei nach einer Verifizierung wissenschaftlich analysiert und kategorisiert, um in eine Datenbank aufgenommen zu werden. Die Kategorisierung folge bundesweit einheitlichen Standards, damit die Vorfälle transparent und vergleichbar seien. Frau Miszkiel-Deppe konnte hierbei von Sachbeschädigungen, Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zu persönlichen Angriffen berichten. Zudem stellte sie fest, dass im Jahr 2021 zwei Schwerpunkte auszumachen seien: zum einen die Eskalation des Nah-Ost-Konflikts im Mai und zum anderen die anhaltenden Demonstrationen gegen die Corona-Pandemie. Beide Sachverhalte führten zu einer Erhöhung antisemitischer Vorfälle auch in unserem Bundesland. Die Leiterin der RIAS Niedersachsen betonte zudem, dass sich ein repräsentatives Meldeverhalten dieser Vorfälle erfahrungsgemäß erst nach fünf Jahren einstelle. So bleibe es Aufgabe der Dokumentationsstelle, das Dunkelfeld weiter aufzuhellen, Antisemitismus aus Sicht der Betroffenen zu dokumentieren und damit für die nichtjüdische Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.

Das letzte niedersächsische Projekt, welches auf dem Symposium vorgestellt wurde, trägt den Titel „Jüdisches Leben – Empowerment und Dialogarbeit“ und wird vom Landesverband Israelitischer Kultusgemeinden Niedersachsen seit dem Frühjahr 2020 durchgeführt. Dr. Rebecca Seidler, Leiterin des Projekts, erklärte bei der Vorstellung, dass Erfahrungsberichte und Studien in den liberalen Gemeinden in Niedersachsen immer wieder deutlich machten, dass eine Vielzahl an Gemeindemitgliedern aufgrund des zunehmenden Antisemitismus und lauter werdender Diskriminierung ein großes Gefühl von Unsicherheit entwickelten. Dieses Gefühl führe häufig zu einem Rückzug aus der nicht jüdischen Welt und damit zu einem Rückgang an gesellschaftlicher Teilhabe, aber auch zu einer Unsichtbarmachung jüdischen Lebens, wenn etwa aus Angst vor Anfeindungen dem Kollegium nicht erzählt werde, dass man jüdisch sei. Das Projekt des Landesverbands habe sich zum Ziel gesetzt, diese zwei entstehenden getrennten Lebenswelten wieder miteinander zu verbinden, um so der weiteren Marginalisierung des Judentums in Deutschland und dem Aufkommen von Vorurteilen entgegenzuwirken. Hierfür bediene sich das Projekt mehrerer Bausteine. Dazu zähle zunächst das Empowerment von Jüd*innen, welche Diskriminierungen und Verunsicherungen erlebt hätten, um sie mit Hilfe von gezielten Bildungs- und Beratungsangeboten darin zu stärken, eigene Handlungsstrategien zu entwickeln. So könnten sie in ihrer jüdischen Identität gefestigt werden, um den Mut und auch die Bereitschaft aufzubringen, in den Dialog zu treten sowie ihr jüdisches Leben nach außen hin zu vertreten. In Workshops würden kommunikative und pädagogische Fähigkeiten geschult, um selbstbewusst über das Jüdischsein reden zu können. Der zweite Baustein sei die Dialogarbeit, welche vor allem dem Entstehen von Antisemitismus durch offene Gesprächsrunden, Synagogenbesuche und Fortbildungen vorbeugen solle. Die eigentlich so wichtige persönliche Begegnung im Rahmen dieses Bausteins habe aufgrund der Corona-Pandemie leider weitestgehend eingeschränkt werden müssen. Dennoch konnte Dr. Seidler ein positives Zwischenfazit ziehen und berichtete, dass das Projekt nicht nur fortgeführt werde, sondern auch eine Erweiterung auf gezielte Angebote nur für Frauen stattfinden solle.

Nach einer kurzen Pause folgte zunächst ein weiterer musikalischer Beitrag des Musikerduos Liv Migdal und Matan Goldstein. Die mehrfach prämierte Geigerin, die sonst auf den Bühnen großer Häuser dieser Welt zu Hause ist, und der Perkussionist widmeten sich gemeinsam der gesamten Bandbreite jüdischer Musik. So schöpften sie aus dem Fundus orientalischer Stilelemente und verknüpften diese mit europäischen Musikstrukturen sowie mit jüdischen Volksmelodien. Auf dem Symposium präsentierten die beiden Musiker vor allem die Komposition „Tikkun“ des Berliner Künstlers Max Doehlemann von 2020, welche eigens für die Musiker komponiert wurde. Tikkun bedeutet Läuterung, Verbesserung einer nicht perfekten Welt als eine immerwährende Aufgabe eines jeden Menschen.

Einer der Höhepunkte folgte mit dem Hauptvortrag von Autor und Schriftsteller Peter Prange. Geboren 1955, promovierte Prange zunächst mit einer Arbeit zur Philosophie und Sittengeschichte der Aufklärung. Nach seinem Durchbruch als Romanautor mit „Das Bernstein-Amulett“ (für die ARD als Zweiteiler verfilmt) folgten die historischen Romane seiner Weltenbauer-Dekalogie (u. a. „Die Principessa“, „Himmelsdiebe“, „Die Rose der Welt“, „Die Götter der Dona Garcia“), in denen er tausend Jahre europäische Geschichte in epochemachenden Ereignissen erzählt. 2016 erschien sein Deutschland-Roman „Unsere wunderbaren Jahre“, die Geschichte der Bundesrepublik vom ersten bis zum letzten Tag der D-Mark, die ihn dank der ARD-Verfilmung einem breiten Publikum bekannt machte. 2018/19 folgte die Geschichte „Eine Familie in Deutschland“, welche als deutsche Jahrhundert-Tragödie von der „Machtergreifung“ 1933 bis zur Kapitulation 1945 in zwei Bänden erzählt. Auch im Ausland hat Peter Prange sich einen Namen gemacht. Übersetzt in 24 Sprachen, haben seine Bücher inzwischen eine internationale Gesamtauflage von über 3 Millionen Exemplaren erreicht. Zudem wurde sein Sachbuch „WERTE“, ein Reiseführer durch die abendländische Kulturgeschichte, für den „Europe Book Prize“ nominiert.

Nachdem der erste Teil des Symposiums einen Einblick in das jüdische Leben in Niedersachsen mit seiner Vielfältigkeit, aber auch mit den Bedrohungen gegeben hatte, verorteten die Ansichten, die Peter Prange unter dem Titel „Was geht mich jüdisches Leben an? Betrachtungen eines Nachgeborenen“ zusammenfasste, das jüdische Leben erklärtermaßen aus einer nichtjüdischen Perspektive. Von dieser Sichtweise hänge ja maßgeblich ab, ob Jüdinnen und Juden in Deutschland „gut“ leben könnten. Frei nach dem Motto „Es ist leicht, in guten Zeiten ein guter Mensch zu sein, aber was passiert, wenn der Wind von vorne weht?“ stellte Prange sich zudem der Frage, wie er sich z. B. während des Nationalsozialismus verhalten hätte. Eingeleitet mit einem Zitat des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl, der in diesem Zusammenhang von der „Gnade der späten Geburt“ gesprochen habe, kommt Peter Prange zu dem Ergebnis, dass die Nachgeborenen keine Schuld trügen – weder im juristischen noch im moralischen Sinn. Und trotzdem hätten die Nachgeborenen mit der unseligen deutschen Vergangenheit mehr zu tun, als ihnen lieb sei. Peter Prange führte zunächst in einem Exkurs durch die Geschichte, denn Antisemitismus sei keine Erfindung der Nazis, sondern habe in der europäischen Geschichte Jahrtausende alte Wurzeln. Er untermauerte seine Ausführungen durch persönliche Erfahrungen und Kindheitserinnerungen. Seine erste wirkliche Auseinandersetzung mit dem Judentum habe er einer der großartigsten Frauengestalten der europäischen Geschichte zu verdanken: Gracia Mendes mit christlichem bzw. Gracia Nasi mit jüdischem Namen. Ihr Leben habe ihn dermaßen fasziniert, dass er einen Roman über sie geschrieben habe. Das Leben der Dona Gracia sei für ihn ein beeindruckendes Beispiel, wie ein Mensch aus der Kraft seines Glaubens über sich hinauswachsen könne. Doch dieses Leben zeige noch etwas Anderes, was ihm ein Licht über das Judentum angesteckt habe. Wohin auch immer das Schicksal Dona Gracia und ihre Schutzbefohlenen verschlagen habe: Überall seien Schulen eingerichtet worden, um das uralte Wissen des jüdischen Volkes an die Jüngeren weiterzugeben, zusammen mit neuen Erkenntnissen und Erfahrungen, die man auf der Odyssee durch ganz Europa erworben habe. Ihm sei keine Kultur bekannt, in der Bildung einen so hohen Wert habe wie im Judentum. Dies sei keine positive Diskriminierung, Bildung sei vielmehr für das Judentum in seiner von Vertreibung und Verfolgung geprägten Geschichte eine überlebenswichtige Notwendigkeit gewesen. In der Geschichte der Dona Gracia sei ihm darüber hinaus ein zweites Merkmal jüdischer Kultur deutlich geworden: eine schier grenzenlose Debattierfreudigkeit. Er machte dies an dem Ausdruck „Judenschule“ deutlich. Die Aussage „Wir sind hier nicht in der Judenschule“ sei aus einem deutschen Mund pejorativ gemeint und impliziere, in der Schule habe Disziplin und Ordnung zu herrschen. In der „Judenschule“ hingegen ginge es hoch her, weil man dort debattiere. Somit kommt Peter Prange schließlich zu dem Ergebnis, dass beides – Bildung und Debattierfreudigkeit – Ausdruck der Einsicht sei, dass es für uns Menschen ewige Wahrheit nicht gebe, sondern wir uns nur immer wieder neue Annäherungen an die Wahrheit erarbeiten könnten, im Wechselspiel von Wissen und Infragestellung, von Meinung und Gegenmeinung. Die leidenschaftliche Suche nach Erkenntnis, gepaart mit einer schier unersättlichen Lust an der Debatte sei das, was ihn an jüdischer Lebensart schlichtweg begeistere. Diese Lebensart habe nicht zuletzt den berühmten jüdischen Witz hervorgebracht. Prange trägt exemplarisch zwei Witze vor, die dies unterstreichen:

Ein Jude kommt zum Metzger und zeigt geradewegs auf einen Schinken und sagt:
„Ich hätt gern diesen Fisch dort.“
„Aber das ist doch ein Schinken“
„Mich interessiert nicht, wie der Fisch heißt.“

„‘Die Juden sind an allem schuld’, meinte einer. ‘Und die Radfahrer’ … sagte ich. ‘Wieso denn die Radfahrer?’, antwortete er verdutzt. ‘Wieso die Juden?’, fragte ich zurück.“
(Kurt Tucholsky (angeblich))

Jeder Witz sei mehr als nur ein Witz. Denn der eigentliche Witz an jedem Witz sei die Verknüpfung von Überraschung und Logik.

Peter Prange führt mit einem ganz und gar egoistischen Argument gegen den Antisemitismus fort, nämlich mit einem Hinweis das geistige Verlustrisiko, das mit jeder Form von Antisemitismus einhergehe, auf einen sogenannten Brain-Drain. Abgesehen von aller Moral und Ethik: Wie abgrundtief dumm müsse eine Gesellschaft sein, wenn sie Heerscharen hochqualifizierter Menschen ausgrenze, mit Berufsverboten belege, verjagt oder am Ende sogar auszurotten versuche? Die von den Nazis betriebene Verfolgung und Vernichtung von Jüd*innen sei das größte und schwerste Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Zugleich aber sei sie auch, so Prange, die geistige Selbstverstümmelung des deutschen Volkes und der deutschen Nation. Schier grenzenlos sei die Zahl herausragender Wissenschaftler*innen und Unternehmer*innen, Ärzt*innen und Jurist*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen und Philosoph*innen, die Deutschland im Verlauf seiner Geschichte dem Rassenwahn geopfert habe. Aber es gebe nicht nur die Genies mit den berühmten Namen. Es gebe darüber hinaus unendlich viele andere überaus produktive und wirkungsmächtige Jüd*innen die kaum jemand zu ihren Lebzeiten kannte, geschweige heute noch jemand kennt. Mit zweien dieser Persönlichkeiten, Josef Ganz und Erich Pommer, habe er sich in zweien seiner Romane befasst.

In dem ersten Roman erzählt Prange die Geschichte des Volkswagenwerks und wie das vermeintlich deutscheste aller Autos entstand, denn der VW Käfer sei zwar von Ferdinand Porsche konstruiert worden, erfunden habe ihn aber Josef Ganz, der eine schillernde Figur der zwanziger Jahre gewesen sei. Auf der einen Seite sei er Autokonstrukteur gewesen und habe ein freies Ingenieurbüro geführt. Auf der anderen Seite sei er Herausgeber der Zeitschrift „Die Motor-Kritik“ gewesen und habe in beiden Funktionen für einen „Volkswagen“ gekämpft, ihn auch so benannt und daraus eine Massenbewegung gemacht. Unter anderem habe er ein Manifest geschrieben „Das Auto des kleinen Mannes“ und darin bereits eine detaillierte Beschreibung des Autos geliefert und ihm den Namen gegeben, unter dem wir den Wagen heute noch kennen: „Maikäfer“. Mit dem Prototyp sei er 1933 auf der Internationalen Automobil- und Motorradausstellung (IAMA) in Berlin vertreten gewesen, wo Hitler zwei Wochen nach seiner Ernennung zum Kanzler seine erste Rede hielt, in der er sich als Verfechter der Mobilisierung Deutschlands zeigte, die ihm insbesondere auch von Josef Ganz viel Beifall einbrachte; nicht, weil Ganz dumm gewesen sei, so Prange, sondern weil er ein Mensch war, der den Wunsch zum Vater des Gedankens machte. Josef Ganz war – so Prange – ein Autobesessener, der dachte, den Auftrag zum Bau dieses Autos zu erhalten. Denn Ganz selbst hatte anfangs sogar Hoffnungen in Hitler gesetzt. Hitler forcierte vieles, was dieser selbst schon in den zwanziger Jahren gefordert hatte, vor allem gerade die Konstruktion billiger Autos. Dies war ein Trugschluss. Schnell musste Josef Ganz erkennen, dass er als Jude nicht nur keine Chance bei den Nazis hatte, sondern sogar aus rassistischen Gründen verfolgt wurde; so brach die Gestapo in sein Büro ein, und Josef Ganz wurde einer Prozesslawine unterzogen. In den Jahren vor der „Machtergreifung“ hatte sich Ganz als Chefredakteur der Zeitschrift „Motor-Kritik“ bei seinen „Kollegen“ unbeliebt gemacht. Denn er hatte ihre großen, schweren Autos, die technisch oft nicht auf dem neuesten Stand waren, in nicht selten zynischem Ton kritisiert und sich über sie lustig gemacht. Die Autobauer hatten sich mit dem Vorwurf gewehrt, Ganz betreibe die Sabotage der deutschen Autoindustrie. Für die Nazis war diese Kritik an den deutschen Autobauern ein idealer Ansatzpunkt, denn sie konnten die Sache so darstellen, als wehre die Autoindustrie sich nur gegen die Verunglimpfung deutscher Produkte durch einen Juden.1934 verfügte Adolf Hitler, dass alle deutschen Autobauer ihre Patente kostenlos dem Staat aushändigen mussten. Denn Hitler wollte, dass unter staatlicher Aufsicht und Führung ein Auto entwickelt werde, das preiswert sein sollte, damit sich möglichst viele deutsche Volksgenossen ein solches Vehikel leisten konnten. Damals hätte Hitler auf Ganz anstatt auf Porsche als Konstrukteur zurückgreifen können. Doch das war für den „Führer“ völlig undenkbar – denn Josef Ganz war Jude. Während die deutschen Autohersteller auf Befehl Hitlers kostenlos ihre Patente hergeben mussten, an denen Ferdinand Porsche sich dann bedienen konnte, wurde Ganz als Jude 1934 von der Gestapo kurzzeitig verhaftet. Nachdem er wieder auf freien Fuß gesetzt worden war, floh er zunächst nach Liechtenstein und dann in die Schweiz. Dort trieb er seine Forschungen und Überlegungen weiter und konstruierte mit Unterstützung der Schweizer Regierung einen weiteren Volkswagen. Dies wurde aus Deutschland wiederum torpediert und Josef Ganz wanderte schließlich 1950 nach Australien aus.

Ein anderer, heute fast vollkommen in Vergessenheit geratener deutscher Jude, der – so Prange weiter – wirklich Außergewöhnliches geleistet habe, heiße Erich Pommer. Er spiele eine Hauptrolle in dem Roman „Der Traumpalast“. Darin versuche er, die Weimarer Zeit in der Geschichte der Ufa-Traumfabrik widerzuspiegeln, der deutschen Antwort auf Hollywood.

Erich Pommer war nach Darstellung Pranges der Mann, der als Produktionsdirektor der Ufa nicht nur den berühmten Stars von damals zu ihren Karrieren verholfen hat, ihm seien auch all die wunderbaren Filme zu verdanken, die bis heute als cineastische Meisterwerke gelten: von „Dr. Caligari“ bis „Dr. Mabuse“, von „Metropolis“ bis „Der blaue Engel“. Alle Ufa-Produktionen, in deren Glanz die Ufa heute noch erstrahlt, seien Werke Erich Pommers, des größten deutschen Filmproduzenten aller Zeiten.

Prange wörtlich: „Die Ufa war Spiegel der Weimarer Republik, 1917 von Erich Ludendorff als eine Propagandamaschine des Militärs gegründet und musste nach dem Ersten Weltkrieg eine Neuausrichtung erfahren. Der Vorsitzende der Deutschen Bank, Emil Georg von Stauß, hat die Ufa schließlich zu dem gemacht, was sie schlussendlich war; die deutsche Antwort auf Hollywood, denn mit Propaganda, so von Stauß seinerzeit, könne man kein Geld verdienen, aber mit Kunst und Unterhaltung. Daraufhin wurde Erich Pommer, der bereits eine kleine Produktionsfirma besessen hatte, Produktionsdirektor der Ufa und zeichnete sich für die kreative Explosion in den zwanziger Jahren verantwortlich. 1933 erkannte auch Joseph Goebbels das Genie von Erich Pommer, der im Begriff war zu emigrieren. Trotz Goebbels’ Versuch, ihn mit falschen Versprechungen in Deutschland zu halten, wanderte Erich Pommer nach Amerika aus und produzierte dort weiter. Nach dem Krieg kehrte Erich Pommer nach Deutschland zurück und half beim Wiederaufbau der deutschen Filmindustrie.“

Josef Ganz und Erich Pommer seien zwei Beispiele dafür, so Peter Prange, welche großartigen Leistungen jüdische Menschen in Deutschland vollbracht hätten und wie gering sie bis heute dafür geschätzt würden beziehungsweise aus dem kollektiven Gedächtnis nahezu vollständig verschwunden seien. Peter Prange zweifelt an einem Zufall. Dies belege auch das Buch „Die Geschichte des Volkswagenwerks und seiner Arbeiter im Dritten Reich“, unter der Federführung von Hans Mommsen, in dem der Name Josef Ganz unerwähnt bliebe. Mit seinem Vortrag über die Vergangenheit, die bis heute auf dem deutsch-jüdischen Miteinander lastet, verdeutlicht Peter Prange ferner, dass auch heute noch jüdisches Leben in unserem Land gefährdet sei. Immer noch gebe es Anschläge auf Synagogen und Friedhöfe; immer noch würden Menschen, die sich durch ihre Kleidung oder in sonstiger Weise als Jüd*innen zu erkennen geben, auf offener Straße angepöbelt und angegriffen; immer noch müssten Juden erleben, wie sie allein aufgrund ihres Jüdischseins drangsaliert und schikaniert würden. Peter Prange bedient sich in seinen Abschlussfeststellungen des autobiographischen Romans „Irgendwo in Deutschland“ der deutschen Schriftstellerin jüdischer Herkunft Stefanie Zweig. Die Odyssee, die im Jahr 1938 Walter, Jettel und Regina von Oberschlesien nach Afrika führt, beschreibt die Autorin Stefanie Zweig in ihrem Buch „irgendwo in Afrika”. Die Geschichte ist jedoch noch nicht zu Ende: Die Familie kommt zurück in das Nachkriegsdeutschland der Entbehrungen und der Hoffnungen, sie versucht, „Irgendwo in Deutschland” ein neues Leben aufzubauen. Die Daheimgebliebenen haben kein Verständnis für die, die freiwillig aus dem vermeintlichen Paradies zurück in die Hölle kommen, wo das Leben vom Kampf ums tägliche Brot geprägt ist.

Prange wörtlich: „Und natürlich war das Deutschland der frühen fünfziger Jahre in keiner Weise entnazifiziert. In einem Bild mutmaßt die junge Stefanie mit feinsinnigem Humor, dass die Dackel, die in Loden gekleidete Hundebesitzer auf der Frankfurter Zeile an den Leinen Gassi führten – dass diese Dackel allesamt noch Nazis seien.“ Prange stellt sich sodann die einfache Frage: „Was können wir gegen die Dackel tun, die immer noch auf Deutschlands Straßen kläffen und pinkeln und beißen? Damit Jüd*innen, die in Deutschland leben und leben wollen, hier eine wirkliche Heimat haben, in der sie sich nicht nur heimisch fühlen, sondern ihr Leben so entfalten können, wie immer sie es möchten?“ Abschließend resümiert er: „Ich fürchte, ein Patentrezept gibt es nicht, weil es gegen Dummheit und Bosheit und Verblendung nun mal kein Patentrezept gibt. Doch zwei Dinge können vielleicht helfen: Rückbesinnung und Selbstbesinnung. Rückbesinnung auf die Vergangenheit, und Selbstbesinnung auf uns selbst, wie viel Antisemitismus ein jeder von uns immer noch in sich trägt. Und vielleicht kriegendie Jüngeren ja hin, was wir Älteren nicht geschafft haben. Grund zur Hoffnung gibt es. Immerhin ist es in zwei Generationen gelungen, dass aus den Trümmern des schlimmsten Schurkenstaats aller Zeiten, des Nazi-Regimes, ein Land geworden ist, in dem trotz der übermächtigen Schatten der Vergangenheit inzwischen wieder viele Menschen jüdischer Herkunft leben möchten. Ganz besonders freut mich dabei, dass für junge Israelis das neue Berlin sich zu einem regelrechten Hotspot entwickelt hat. Für diesen Vertrauensvorschuss, den diese Menschen uns schenken, bin ich zutiefst dankbar. Und sehe darin zugleich unsere kollektive Verpflichtung, diesen Vorschuss einzulösen. Damit sich jüdisches Leben in Deutschland frei und ungehindert entfalten kann. Zum Wohl eines jeden Menschen jüdischer Herkunft in unserem Land. Und zu unser aller Bereicherung. Nur ein Traum? Vielleicht, aber ein schöner. Sorgen wir also gemeinsam dafür, dass er Wirklichkeit wird.“

Insbesondere durch die lebendige Podiumsdiskussion im Anschluss an den Hauptvortrag konnte sodann deutlich gemacht werden, dass der effektive Kampf gegen Antisemitismus immer wieder der zwischenmenschlichen Begegnungen bedarf. Unter dem Titel „Von Kitt und Rissen – was unsere Gesellschaft zusammenhält und was sie spaltet“ diskutierten Mirna Funk, Sylvia Löhrmann, Dr. Elio Adler sowie Peter Prange mit der NDR-Moderatorin Christina von Saß aus weiteren verschiedenen Perspektiven über aktuelles jüdisches Leben in Deutschland.

Hierbei wurde zunächst über die aktuelle Wahrnehmung verschiedener Formen von Antisemitismus gesprochen. Es wurde festgestellt, dass die Sichtbarmachung von Antisemitismus durch und auf Social-Media-Kanälen zu einem Anstieg von antisemitischen Parolen und Denkweisen führe, obwohl Antisemitismus fortwährend seit Jahrhunderten existiert habe. Zum anderen eröffne die Sichtbarmachung jedoch auch die Möglichkeit zu erfahren, was Menschen aus der Mitte der Gesellschaft tatsächlich dächten. Zuvor habe man dem öffentlichen Diskurs die Meinungen von Journalist*innen und Politiker*innen entnehmen können, nicht jedoch die Ansichten der breiten Masse. Die daraus gewonnenen Einsichten könnten gerade in der Prävention von Jüd*innenhass sowie anderer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit genutzt werden. Eine große Herausforderung dabei sei jedoch, dass die meisten Social-Media-Kanäle überwiegend als Selbstinszenierungsplattformen fungierten, in denen selbstverstärkende Mechanismen ein großes Potential an Radikalisierungsfaktoren innehatte. Insbesondere, wenn Menschen in ihrer Identität und ihrer Selbstwahrnehmung verunsichert und gestört seien, führe dies zu einer hohen Anfälligkeit für den Glauben an Verschwörungsideologien und anderen Narrativen, die intrinsisch antisemitisch konnotiert seien.

Um solchen Entwicklungen vorzubeugen, bedarf es nach Meinung aller Teilnehmenden einer politischen Bildung, welche so früh wie möglich beginnt. Hier müssten mithilfe von Inklusion und Begegnungen positive emotionale Identifizierungsangebote geschaffen werden, damit bereits im Kindesalter das Fremde, darunter z. B. das Jüdische, nicht als Objekt, sondern als etwas Vertrautes und Teil der eigenen Identität verstanden und dadurch auch gestärkt sowie gefestigt werden können. Wenn junge Menschen lernten, dass alle Mitbürger die gleichen Rechte hätten, und sie dabei zusätzlich in ihrer eigenen Persönlichkeit gestärkt werden, sinke das Risiko einer späteren Vorurteilsbildung oder gar Radikalisierung um ein Vielfaches. Auch das „empowern“ junger Menschen, jüdisch wie nichtjüdisch, um eine politische Beteiligung zu fördern, könne hier hilfreich wirken. Um bereits existierende Vorurteilsstrukturen zu bekämpfen, bedürfe es außerdem der Rückbesinnung in Form eines zu bildenden Geschichtsbewusstseins und der Selbstbesinnung im Rahmen einer Reflexion der eigenen Wahrnehmung. Denn die Gemeinsamkeit, welche alle Gruppen antisemitischen Denkens vereine, sei die bereits erwähnte Störung in ihrer Identität und Selbstwahrnehmung. So wurde der Wunsch danach, jüdisches Leben endlich als etwas Normales, als einen normalen Teil unseres öffentlichen Lebens, wahrzunehmen, deutlich und mehrfach formuliert.

Im Hinblick auf eine moderne Erinnerungskultur wurde in der Gesprächsrunde weiter diskutiert, dass das Erinnern nicht als Selbstzweck in Rituale verfallen dürfe. Es sei vielmehr notwendig, durch neue Ansätze eine Beschäftigung mit der deutschen Geschichte zu entwickeln, welche die Verantwortung aller für die Gegenwart formuliere. Ein Beispiel könnte hierbei die Aufarbeitung eigener Biographien, insbesondere also nichtjüdischer und damit häufig Täter-Biographien sein. Durch das Erlernen der eigenen Familiengeschichte werde nicht nur ein emotionaler und persönlicher Bezug hergestellt, sondern Geschichte könne auch als etwas Fortlaufendes, nicht Abgeschlossenes erkannt werden. Zudem könne mit der Einführung von Feier- und Gedenktagen eine Art emotionales Empfinden und Identifizieren mit freiheitlich demokratischen Grundwerten etabliert werden. Beispielsweise könne eine Feier zum Tag des Grundgesetzes nicht nur entsprechende demokratische Grundwerte sichtbar machen, sondern auch ein wichtiges emotionales Gegenangebot zu dem insbesondere von Rechtsextremisten gestrickten, sehr umfangreichen emotionalen Korsett für ihre Anhänger schaffen.

Das Fazit der interessanten Diskussion kann in der Aufforderung, dass mehr Menschen mehr Zugang zu jüdischem Leben benötigten, zusammengefasst werden. Dies könne nicht nur durch eine stärkere Verankerung von jüdischem Leben in der Medienlandschaft eine erhöhte Sichtbarkeit erzielen, sondern vor allem und gerade durch Begegnungen mit Jüd*innen. Je häufiger eine persönliche Begegnung stattfinde, desto normaler und selbstverständlicher werde das gemeinsame Zusammenleben in einem freiheitlich demokratischen und pluralistischen Deutschland.

Mit dem Ende der Podiumsdiskussion kam auch das Symposium zum Schluss. Der Landesbeauftragte resümierte: „Mit jungen jüdischen Stimmen, klugen Köpfen und ausgewiesenen Experten haben wir das Thema Antisemitismus weiter-gedacht – fern ab von standardisierten Betrachtungen! Für diesen bereichernden Impuls bin ich allen Beteiligten sehr dankbar!“

Weiter führte Franz Rainer Enste aus: „Gewiss gibt es – das ist mit dem Symposium deutlich geworden – noch viel zu tun. Und klar ist auch, wir sind gefordert, jeder einzelne von uns! Wir sind immer wieder gefordert, mit Mut und Zivilcourage, ja mit Empathie für das einzutreten, was unseren Staat im Kern ausmacht: seine Offenheit und seine Pluralität, seine Chance zu sozialem Ausgleich und vor allem seinen Respekt gegenüber dem Anderen, letztlich seine Freiheit.“

Das Symposium ist abrufbar: Symposium „Judentum in Niedersachsen – lebendig, wertvoll und bereichernd” – YouTube zu sehen. Die Aufzeichnung wurde bis zum 25.04.2022 bereits 668 Mal angesehen.

Quellennachweis:
„… Jahresbericht ... Jüdisches Leben in Niedersachsen - lebendig, wertvoll und bereichernd“. Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz Jüdischen Lebens, Hannover, 2021. GBV
Die „Israelitische Gartenbauschule Ahlem“ wurde 1893 gegründet. Sie bildete jüdische Jugendliche in Gartenbau und weiteren praktischen Berufen aus. Angegliedert war eine Volksschule für Jungen und Mädchen. In vier Jahrzehnten erwarb sich die Gartenbauschule einen internationalen Ruf als Ausbildungsstätte.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 wurden Jüd*innen hier beruflich auf die Emigration vorbereitet. Dies sicherte die Existenz der Schule.
Für Schüler*innen und Lehrlinge bildete sie einen Schutzraum auf Zeit. Zum 30. Juni 1942 wurde die Schließung der Schule angeordnet. Seit Dezember 1941 nutzte die Gestapo das Gelände als Sammelstelle für die jüdische Bevölkerung vor ihrer Deportation in die Ghettos und Konzentrations- und Vernichtungslager.
Nach der Ausbombung ihrer Leitstelle beschlagnahmte die hannoversche Gestapo im Oktober 1943 das Direktorenhaus und richtete im alten Haupthaus ein Gefängnis ein. Im März 1945 ermordete sie mindestens 59 Häftlinge auf dem Gelände.
Jüdische Überlebende der Shoah gründeten nach ihrer Befreiung auf dem Gelände einen landwirtschaftlichen Kibbuz. Die letzten von ihnen wanderten Anfang 1948 in das spätere Israel aus.

Quellennachweis:
Gedenkstätte Ahlem (zuletzt eingesehen am 31.08.2023)

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2022-03-25T14:32:16Z
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