Dr. Joachim Frassl
im Porträt
Sie sind der Experte für die jüdische Geschichte Seesens, wie kam es überhaupt dazu, dass Sie sich so intensiv dieser Erforschung gewidmet haben? Begann die Auseinandersetzung mit der Planung zum Schuljubiläum 2001 des Jacobson-Gymnasiums oder schon früher?
1977 kam ich als frisch fertiger Lehrer an das Jacobson-Gymnasium und hatte damals noch nichts gewusst von der außerordentlichen Geschichte meiner zukünftigen Schule. Im Jahr 2001 feierte das Gymnasium als Nachfolge-Institution der alten Jacobson-Schule das 200jährige Jubiläum. Seit 1945 bis an 2000 heran war die jüdische Geschichte Seesens, abgesehen von den Veröffentlichungen Gerhard Ballins seit Ende der 1970er Jahre, praktisch nie ein Thema gewesen.
Ich war Lehrer für Kunst und hatte hier die Möglichkeit, visuell-kommunikative und künstlerische Beiträge zum Jubiläum zusammen mit Schüler*innen zu leisten: Eine opulente Festschrift entstand, verschiedene Ausstellungen waren überall im Schulgebäude zu besuchen; u. a. hatten meine Schüler*innen am Computer auch Jubiläumsbriefmarken entworfen, die Marksteine der Schulgeschichte darstellten.
War Ihnen von vorherein bewusst, an was für eine „besondere“ Schule Sie gekommen waren?
Da ich im Jahr 1975, als man in der damaligen Seesener Oberschule im Kollegium die Historie diskutierte, um der Schule wieder den Namen Jacobsons zu geben, noch nicht in Seesen war, ist mir die damalige Diskussion um die „Besonderheit" dieser Schule zu Anfang nicht bewusst geworden. 1977 kannte auch der Große Brockhaus den Namen Israel Jacobson nicht, weil die Nazis seinen Namen aus diesem Lexikon gestrichen hatten. Hätte ich ein altes Exemplar befragt, wäre ich sehr wohl fündig geworden. Auf meine Nachfrage an den Brockhaus-Verlag habe ich nie eine Antwort bekommen.
Sie haben über die Jahre mehr als 350 historische Bilder des Tempels und der Schule zusammengetragen. Wie haben Sie es geschafft, diese umfassende Fotosammlung aufzubauen? Wo kommen diese Bilder her?
Zuallererst brachte natürlich das umfangreiche historische Archiv der Jacobson-Schule im Gymnasium viele visuelle Quellen ans Licht. Daneben war es vielleicht meine Fachspezialität, als Kunstgeschichtler und Bildspezialist anders in den Objekten lesen zu können als ein textorientierter Historiker. An zweiter Stelle würde ich die Seesener/Rhüdener Postkartensammler nennen, die erstaunliche Schätze besitzen. Vieles habe ich im Internet gefunden, jahrelang aus Büchern Bilder digitalisiert. Und irgendwann erhielt ich auch Materialien von Privatpersonen zwischen Seesen und Australien, den USA und aus Südamerika.
Sind Sie bei Ihren Nachforschungen auf Widerstand in Seesen gestoßen und wenn ja, in welcher Form?
Eigentlich nicht. Ich hatte immer wieder das Gefühl, dass wir als kleine Gruppe der Forschenden und Aufdeckenden die unwidersprechbaren Argumente hatten, weil die Taten sichtbar und nah waren und weil die Opfer durch unsere Arbeit Namen und Gesichter bekamen. Natürlich gab es auch mal provozierende Fragen: „Sagen sie mal, Herr Frassl, gibt es in Seesen eigentlich nur jüdische Geschichte?" Aber zum Widerspruch reichte es nicht, als ich den Herrn bat, er möge mal bitte seinen Beitrag an der Seesener Geschichte leisten und die Lücken füllen, die er in seinem Geschichtsbild vermisste.
Die Schüler*innen gestalten zum 9. November in jedem Jahr einen Beitrag zum Gedenken an die ermordeten Schüler*innen der Jacobson-Schule. Ist Ihnen dabei etwas sehr prägnant in Erinnerung geblieben?
Nach der Auflösung der Orientierungsstufe in Niedersachsen sollten die jungen Schüler*innen durch ihre aktuellen Lehrer in die historischen und konkret-schulischen Problembereiche eingeführt werden. Es ergaben sich für mich zwei sehr intensive Unterrichtsstunden, denn die Schüler*innen hatten in mir einen Fachmann vor sich, der fast wie ein Zeitzeuge auftreten konnte und sehr illustrativ die Geschehnisse in Seesen und die Schicksale der Opfer vor Augen führen konnte. Das Interesse war dementsprechend groß. Am Ende wurde ich gefragt: „Können Sie bitte nächste Woche noch mehr davon erzählen?“
Empfand ich selbst diese zwei Stunden schon als „Unterrichts-Sternstunden", wurde ich eine Woche später ein weiteres Mal überrascht: Das Gedenken am Synagogenmahnmal im Schulzentrum hatte stattgefunden, Blumengestecke waren niedergelegt worden, Schulleiter sowie Schülerratsvertretung hatten geredet. Zwei Jungen aus der 5. Klasse sprachen mich an: „Herr Frassl, im nächsten Jahr wollen wir die Rede halten!“ Und in der Tat: Im Folgejahr sprachen zwei Sechstklässler am Ehrenmal zum Thema!
Hat sich die Erinnerungskultur an der Schule während Ihrer Dienstzeit dort gewandelt?
Erst mit dem Zurückkehren des Synagogen-Gedenksteins aus der jahrelangen „Diaspora" auf der grünen Wiese hinter dem Seesener Minigolfplatz hin zum Standort des heutigen Jacobsongymnasiums im Jahr 2000 gab es die Erinnerungsveranstaltungen mit allen Schüler*innen und mit Kranzniederlegungen ganz in Schulnähe. Im Laufe der Jahre sind in ausgesuchten Religions-Kursen Konzepte für die Durchführung der Feiern geplant worden, so dass es mit Beteiligung der Schüler*innen jeweils beeindruckendes Erinnern gab.
Haben Sie ein Lieblingsobjekt, eine Fotografie oder ein Archivdokument? Erzählen Sie uns doch etwas davon.
Geldscheine aus dem Ghetto Theresienstadt können keine Lieblingsobjekte sein, obwohl sie berühren, wenn man sie in die Hand nimmt, schmerzlich berühren. Als ich vor Jahren ein Buch im Schularchiv aufschlug, fielen vier Geldscheine heraus. Wie sind sie jemals ins Archiv gelangt? Bei genauer Betrachtung sah ich je einen 1-, 2-, 5- und 10-Kronenschein. Auf der Rückseite: ein ovales Bildfeld mit Mose und den Gesetzestafeln. Herausgegeben am 1. Jänner 1943, unterzeichnet: Der Älteste der Juden in Theresienstadt, Jakob Edelstein. Ghettogeld also aus Theresienstadt. Ich hielt die Scheine in den Händen, zwei davon abgegriffen und zerknittert an den Rändern. Wer mochte sie in den Händen gehalten haben. Was geschah mit diesen Menschen? Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Dann sah ich die Registrier-Nummern: A 007, A 040 ..., alles kleine Nummern. Ich erinnerte mich an den Propagandafilm der Nazis, der dem Roten Kreuz dokumentieren sollte, wie „gut“ alles läuft: Titel: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Der Film gaukelte der Welt „Kultur“ im Ghetto, im Lager vor!
Fällt Ihnen eine Geschichte ein, die Sie sehr berührt hat?
Die Jacobson-Schule hat insgesamt bis heute mindestens 267 Todesopfer im Totenbuch zu verzeichnen. Es sind vielfach die frühen Jahrgänge, die ab 1942 in das „Alters-Ghetto“ nach Theresienstadt deportiert wurden. Viele kannten sich und haben sich am Ende ihres Lebens dort noch einmal getroffen. Der ehemalige Schulleiter Rolf Ballof brachte mit großer Bitternis über Kenntnis jenes Wiedersehen auf den Begriff eines „Klassentreffens in Theresienstadt".
Lieber Herr Dr. Frassl, lieber Joachim, wir danken dir herzlich für das Gespräch!
Seesen im Februar 2025
Dr. Joachim Frassl hat über die Jahre in beachtlichem Umfang zu seinen Forschungsthemen publiziert. Wir haben ihn im Gespräch zu seinen "Lieblingspublikationen" befragt. Hier finden Sie sowohl diese "Highlights" als auch seine gesamte Publikationsliste nebst Bezugsmöglichkeiten zum Herunterladen.
Publikationen